A. M. Christen: Das Ohr am Puls der Zeit

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Titel
Das Ohr am Puls der Zeit. Die öffentliche Vortragstätigkeit der Freistudentenschaft der Universität Bern (1906 –1990)


Autor(en)
Christen, Andrea Martin
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
484 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anna Bähler

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren nicht alle Studenten – schon gar nicht die Studentinnen – Mitglied einer Studentenverbindung. In Deutschland begannen sich diese «freien» Studenten um 1900 zu organisieren, um ihren Bedürfnissen Gehör zu verschaffen. Jeder Student sollte ungeachtet seiner Herkunft, Religion und Überzeugung gleichberechtigtes Mitglied der Freistudentenschaft sein können. Ein weiteres Anliegen war die Stärkung einer umfassenden Allgemeinbildung der Studenten über ihr eigentliches Fach hinaus. Der Erste Weltkrieg setzte der Bewegung der deutschen Freistudentenschaft arg zu, spätestens um 1922 war sie verschwunden. Doch sie hatte bleibende Auswirkungen in der Schweiz, wohin sie schon vor dem Ersten Weltkrieg übergeschwappt war.

In Bern gab es im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit der Wildenschaft eine Organisation der nichtkorporierten Studentinnen und Studenten, der auch russische Kommilitoninnen und Kommilitonen angehörten. Angesichts der xenophoben Haltung vieler Schweizer Studierender kam es 1906 zur Abspaltung der Freistudentenschaft (FS), deren Ziel es war, die «schweizerischen, reichsdeutschen und österreichischen Kommilitonen» zusammenzuführen und zu «geistiger und geselliger Betätigung» zu animieren. Explizit unerwünscht war das «russische Element». Studentinnen hingegen waren in der ersten Phase durchaus willkommen, aber nicht sonderlich interessiert. In den 1920er-Jahren schloss die FS die Studentinnen von der Mitgliedschaft aus – erst 1975 war wieder eine Frau Mitglied der FS.

Weil die Wildenschaft die Spaltung nicht überlebte, blieb die FS als einzige Organisation der Nichtkorporierten übrig. Ihren Anspruch, Interessenvertretung aller Nichtkorporierten zu sein, gab sie um 1913 auf, als sie sich als Verein organisierte. Von nun an entschied die Generalversammlung über die Aufnahme neuer Mitglieder, die zudem einen Mitgliederbeitrag leisten mussten. Fast gleichzeitig zur Vereinsgründung entstand der Verband ehemaliger Freistudenten (Alt-FS). Zweck der FS war nun in erster Linie die «Förderung des studentischen Zusammengehörigkeitsgefühls» und die «Mitwirkung am geistigen Leben der Bundesstadt». Die wichtigste, aufwändigste und auch bedeutendste Tätigkeit der FS war in den folgenden Jahrzehnten das Organisieren von Vorträgen.

Es ist erstaunlich, über welch lange Zeitspanne – von 1906 bis 1990 – es der FS gelang, der bernischen Öffentlichkeit ein äusserst vielseitiges Vortragsprogramm zu bieten. Sie etablierte sich damit als führende Vortragsorganisation in der Bundesstadt. Inhaltlich waren die Vorträge sehr unterschiedlich. Gut vertreten waren germanistische und kunsthistorische Themen, häufig lasen Schriftsteller aus eigenen Werken. Platz hatten aber auch philosophische, historische und aktuelle politische Fragestellungen. Die Naturwissenschaften kamen ebenfalls nicht zu kurz. Eher selten waren die Vorträge von Lichtbildern begleitet, später gab es hie und da auch Filmvorführungen. Unter den gut 700 Vortragenden sind zahlreiche hochkarätige Namen zu finden: So trat Thomas Mann beispielsweise von 1921 bis 1952 neun Mal für die FS auf, Hermann Hesse von 1908 bis 1929 ebenfalls neun Mal.

Die FS hatte als wichtige Vortragsplattform eine gewisse Einflussmöglichkeit auf die Meinungsbildung, indem sie entschied, welche Persönlichkeiten sie für Vorträge einlud und auf welche sie lieber verzichtete. Die inhaltliche und politische Ausrichtung der Vorträge zeigt einerseits, dass die FS einer bürgerlich-liberalen Weltanschauung verpflichtet war. Andererseits hatte sie ein ausgesprochen gutes Gespür für den gesellschaftspolitischen Mainstream. Zum Beispiel stellte sich die Vortragskommission in den 1930er-Jahren bewusst in den Dienst der Geistigen Landesverteidigung, und nach dem Zweiten Weltkrieg lud sie zu den Vorträgen über die Kerntechnologie diejenigen Wissenschaftler ein, welche politisch auf der gleichen Linie lagen wie der schweizerische Bundesrat. Während und nach der Zeit des Nationalsozialismus zeigte die FS wenig Scheu, neben Kritikern des Nationalsozialismus auch Personen einzuladen, die dem Nazi-Regime nahestanden. Es ist eine grosse Qualität der vorliegenden Publikation, dass der Autor diesen Bereich der Vereinsgeschichte sehr sorgfältig aufgearbeitet hat. In seiner kargen Aufmachung richtet sich das Buch eher an Insider. Auf Personen, die keine Beziehung zur FS haben, wirkt es auf den ersten Blick nicht sonderlich attraktiv. Die ohne Anhang gut 350 Seiten starke Publikation ist sehr detailreich geschrieben, sodass es nicht immer einfach ist, die relevanten Fakten herauszulesen. Erst am Schluss findet sich ein kurzes Fazit, das auch als Zusammenfassung gelesen werden kann. Das Buch weist zudem über weite Strecken hinweg kaum Illustrationen auf, und nur wenige davon sind geeignet, das Interesse einer aussenstehenden Leserschaft zu wecken. Das ist schade, denn die über 100-jährige Geschichte der FS und das viele Jahre währende Engagement ihrer wechselnden Exponenten hätten ein Interesse der Öffentlichkeit verdient. Wer sich mit der Geschichte der Schweizer Intellektuellen im 20. Jahrhundert auseinandersetzen möchte, sollte auf jeden Fall dieses Buch lesen – und wird es mit Gewinn tun.

Zitierweise:
Anna Bähler: Rezension zu: Christen, Andrea Martin: «Das Ohr am Puls der Zeit». Die öffentliche Vortragstätigkeit der Freistudentenschaft der Universität Bern (1906 –1990). Zürich: Chronos Verlag 2013. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 1, 2015, S. 41-42.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 1, 2015, S. 41-42.

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